Es gibt nur wenig Maler, deren Kunst so häufig Unrecht getan wird, wie Peter Paul Rubens.
Frauen und Männer, die „ein paar“ Kilo mehr auf Waage bringen, als das heute herrschende Schönheitsideal vorgibt, bezeichnen sich gern als „Rubensfigur“. Für viele Menschen ist der Künstler somit zu einem Maler von „dicken Frauen und dicken Männern“ verkommen.
Versuchen wir jedoch, uns von den Vorurteilen zu lösen und schauen auf seine Werke aus dem Blick eines unvoreingenommen Betrachters, dann entdecken wir eine unglaubliche Explosion an Farben und Motiven, eine Dynamik der Bewegung, die ihresgleichen sucht.
Das Bild, welches wir uns heute anschauen, heißt „Der Raub der Töchter des Leukippos“.
Die beiden Dioskuren, Castor (sterblich) und Pollux (unsterblich) entführen darin die beiden Töchter von Leukippos, des Königs von Messenien, Hilaeira und Phoibe.
Castor, auf seinem Pferd sitzend und Rüstung tragend, starrt eisern, erbarmungslos und fest auf eine der beiden Frauen. Sein muskulöser Arm greift nach ihrem Umhang und reißt sie daran hoch, während sie, sich verzweifelt windend, sich zu befreien versucht. Sie wirft sich nach hinten, reißt den Arm hoch, schaut voller Furcht nach oben in einem vergeblichen Versuch, dem Angreifer zu entkommen.
Sie droht, ihm zu entgleiten, Castor würde wohl aus dem Sattel stürzen, wäre sein Halbbruder ihm nicht zur Hilfe gewesen und die Frau mit ergriffen. Durch Castors schnelle Vorbeugung flattert dessen eigener Umhang hoch und bildet damit ein Gegenpol zu dem roten Tuch, mit welchem er eine der Töchter hoch zu ziehen versucht.
Doch gleichzeitig scheint sich die Frau seltsamerweise in ihren Schicksal durchaus willig zu fügen. Ihr Blick scheint etwas verklärt, ihre rechte Hand ruht fast zärtlich auf dem Arm Castors. Vielleicht interpretiert hier Rubens die Version der Geschichte, in der am Ende die beiden Schwestern die Halbbrüder heiraten?
Castors Pferd wiehert, bleibt aber, wie es sich für ein gut trainiertes Kampfross gehört, still, obwohl es ungeduldig etwas mit den Beinen stampft. Ein kleiner Putto greift nach seinen Zügeln, um dem Soldaten zu helfen.
Der unsterbliche Pollux hingegen scheint die Ruhe in Person zu sein. Mit der Rechten stützt er eine der Töchter und schiebt sie seinem Halbbruder hoch, mit der anderen ergreift er die stürzende zweite Frau, die wohl von der Wucht der sich herauswindenden Schwester aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Sie schaut entsetzt zu dem Ritter hoch, vermutlich versuchte sie gerade noch, nach ihrer Schwester die Hand zu strecken als diese ihr entrissen wurde. Sie würde fallen, hätte Pollux sie nicht fest ergriffen und schnell mit seinem vorgestreckten Knie gestützt. Pollux schaut zu ihr herunter mit seinem ruhigen, festen, aber ebenso erbarmungslosem Blick wie sein Bruder.
So ruhig Pollux ist, so viel unbändige Kraft zeigt sein Pferd. Es bäumt sich auf, wiehert, schlägt mit den Hufen. Der kaum sichtbare Puto hat größte Mühe, auf seinem Rücken zu bleiben. Angst verzerrt sein Gesicht, er klammert sich verzweifelt auf die Mähne des Rosses.
Die ganze Szene lebt von einer explosiv artigen Bewegung. Der Betrachter vermag das Schreien der Frauen, die wütenden Schimpfe der Castors zu hören, übertönt durch das Wiehern der Pferde. Die zerrissenen Stoffe lassen erahnen, wie plötzlich und unerwartet die beiden Frauen überfallen wurden, vermutlich auf einem Spaziergang in einer schönen Landschaft dahinter.
Verstärkt wird der Eindruck noch durch die Lichtsetzung. Die in einem regelrechten Knäuel ineinander verwirrten Gestalten stehen im vollem Licht, welches sich auf der Rüstung von Castor und den Körpern der Frauen spiegelt, während die Ränder des Bildes, die Landschaft und abgewandte Seite der Pferde dunkler ist.
Das Gemälde weist eine starke Doppelteilung: das klare, schöne rot verbindet Castor mit einer der Schwester, der goldene Ton wiederum Pollux mit der zweiten. Die beiden Männer haben dunkle Haare und starke Tönung der Haut, die Frauen helles Haar und fast weiße Haut. Die Männer wirken eher ruhig und fest, die Frauen winden sich und sind in voller Bewegung. Der Putto auf dem Pferd Castors ist ruhig, beinahe gelangweilt, der auf dem Rücken des anderen klammert sich verzweifelt an die Mähne des Tieres.
Dazu die kräftigen Farben, die saubere Pinselführung, die Ausarbeitung der Details…
Es ist wirklich ein Meisterwerk!