Zuletzt hatten wir mehrere Gemälde mit Frauen als Motiv, daher ist es natürlich höchste Zeit, sich jetzt auch mal einem Kunstwerk mit einem Man als Thema zu widmen.
Wenn wir heute von Leonardo da Vinci, den Schöpfer des wohl berühmtesten Gemälde weltweit, der „Mona Lisa“ lesen, kommt unweigerlich als sein Porträtbild eine berühmte Skizze, gemacht mit Rötel auf Karton, die einen älteren, bärtigen Mann zeigt.
Leonardos Porträt ist darauf im Viertelprofil abgebildet. Er hat lange Haare, ebenso langen, vermutlich schon weißen Bart. Die tiefen Falten auf der Stirn und Tränensäcke unten den Augen deuten daraufhin, dass er vieles gesehen und vieles erlebt hat. Seine Oberlippe ist etwas eingefallen, vermutlich hat er bereits seine Zähne schon verloren. Leonardo schaut an uns vorbei, nachdenklich, mit verschleierten Blick sinnend über etwas, was wir nicht wissen können.
Ein schönes Porträt Leonardos, dazu noch von seiner eigenen Hand gezeichnet, würde man denken… Die Wirklichkeit jedoch ist: wir wissen überhaupt nicht, ob es von ihm ist und tatsächlich auch Leonardo zeigt.
Als Leonardo starb, wurden die meisten seiner Zeichnungen von seinem Schüler Francesco Melzi übernommen und in seiner Villa bei Vaprio d’Adda aufbewahrt. Sein Sohn Orazio Melzi erbte die Sammlung 1570 und verkaufte sie danach an verschiedene Personen, sie wurde in alle Winde zerstreut. Was sich darin tatsächlich befand, das wissen wir nicht. Vollständigen Katalog hat es entweder nie gegeben und es ist im Laufe der Zeit verloren gegangen.
Zum ersten Mal taucht die Zeichnung erst 1840, als Herzog Karl Albert von Savoyen die Skizze von einem anderen Sammler kauft. Betitelt tatsächlich als „Selbstbildnis Leonardos“. Aber diese Bezeichnung fusst nicht auf irgendwelchen zeitgenössischen Berichten oder gar auf einem Hinweis aus der Hand des Malers selbst, sondern ausschließlich auf die Ähnlichkeit des Porträtierten mit der Figur Platos aus der „Schule von Athen“ Raffaels (übrigens es ist das Titelbild dieser Seite!). Raffael baute einige Künstler damaliger Zeit in das Geschehen ein und sah für den Plato eben Leonardo vor.
Raffaels Plato (aka Leonardo) ist ein älterer Mann mit fliehender Stirn, wallendem, wenn auch eher schon schütterem weißen Haar und einem langen, in Wellen fallenden Bart. Unzweifelt ist eine Ähnlichkeit vorhanden, ja, aber es gibt auch Unterschiede. So hat die Nase eine andere Form, der dichte weiße Schnurrbart fehlt auch, die Stirn wirkt kompakter. Aber natürlich könnte auch die Skizze später entstanden sein, als die „Schule von Athen“, da ist der Schnurrbart eben abhanden gekommen.
Aber Leonardo starb schließlich mit gerade mal 67 Jahren. Ich erinnere daran: es ist heutzutage überhaupt erst das Renteneintrittsalter. Kann also Leonardo überhaupt so alt ausgesehen haben? Schließlich erinnert die Skizze eher an einen wesentlich älteren Herren. Zeitzeugen berichten jedoch, dass Leonardo sehr gealtert ist in seinen letzten Jahren, es gibt auch Hinweise auf einen Schlaganfall, was natürlich sein Aussehen verändert haben konnte.
Also doch Leonardo selbst? Vielleicht ja. Es könnte aber ebenso gut einfach eine Skizze sein, eine Vorstellung, für irgendeines seiner Gemälde. Leonardo zeichnete schließlich gern solche Skizzen von allen möglichen Menschen, und übertrieb gern dabei. Die Nasen wurden lang, die Gesichtskonturen verstärkt, vieles erinnert heutzutage sogar an eine Karikatur. Hat Leonardo sich hier tatsächlich selbst abgebildet, nur vielleicht absichtlich gealtert und dadurch vornehmer? War es eine Skizze, wie er Gottvater in irgendeinem Gemälde darzustellen plante? Oder hat er einfach nur jemanden von der Strasse gemalt, weil er ihm so gut gefiel? Wir wissen es eben nicht.
Könnte man vielleicht dieses Abbild mit einem anderen Porträt da Vincis vergleichen? Nun, wir haben eines. Francesco Melzi hat eines gemalt, wo Leonardo im Profil abgebildet ist. Zumindest wird es Melzi zugeschrieben, so ganz sicher ist es auch nicht (vielleicht hat es sogar Leonardo selbst gemalt?). Die Ähnlichkeit mit dem Porträt Rafaels ist deutlich zu sehen, dieselbe hohe Stirn, Nase, Bart. Aber die Augenbrauen sind weniger wuchtig, die Nase mehr gerade als auf der vorgeblichen Autoporträt-Skizze hier… Die weiteren möglichen Abbildungen Leonardos (Statue des Davids von Verrocchio, Detail in der „Anbetung der Könige aus dem Morgenland“ zeigen Leonardo leider als jung, Kind, Teenie. Das lässt sich nichts ableiten.
Können wir wenigstens sagen, dass Leonardo es gemalt hatte? Es gibt Hinweise dafür, so wurde die Skizze mit der linken Hand erstellt und Leonardo war Linkshänder. Aber natürlich war er nicht der einzige in dieser Zeit. Darüber hinaus gab es viele, die im ähnlichen Still malten, teilweise als bewusste Nachahmung Da Vincis. So ist beispielsweise der deutsche Kunsthistoriker Hans Ost (Professor für Kunstgeschichte an der Uni Köln und renommierter Fälscherexperte der damaligen Kunst) der Meinung, die Skizze stamm in Wirklichkeit von Giuseppe Bossi, einem Fachmann für die Kunst da Vincis und einem berühmten Fälscher.
Zusammenfassend könnte man sagen, vielleicht ist es ein Autoporträt von Leonardo aus seiner eigenen Hand, vielleicht überhaupt nicht, vielleicht irgend etwas dazwischen. Wir wissen es einfach nicht.
Diese Skizze ist ein Musterbeispiel dessen, dass wir in Wirklichkeit über alte, scheinbar so gut erforschte Kunst wesentlich weniger wissen, als gern zugegeben wird…