Burgund. Heute denken wir bei dem Namen fast nur an den Wein, doch einst war es ein reiches und mächtiges Land. Zu Burgund gehörten große Teile des heutigen Belgiens und Hollands. Städte wie Brüssel, Gent, Brügge machten es reicher, als Paris oder London es damals waren. Sein Herzog, Philipp der Gute, war der vermögendste Herrscher auf dem Kontinent.
Seine Rechte Hand in allen wichtigen Geschäften war der Staatskanzler, Nicholas Rolin. Als Van Eyck dieses Gemälde malte, war er achtundfünfzig Jahre alt und damit auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Rolin war ein typischer Politiker der damaligen Zeit: eiskalt, berechnend, mächtig und reich. Sein Reichtum ist klar aus seiner Kleidung zu erkennen: dicke, wertvolle Stoffe, reiche Ornamente, mit Sicherheit kein C&A oder Kik… Seine Gesichtszüge sind hart, Blick fest, ein Mann, der weiß, was er will und der bereits ist, über Leichen zu gehen. Kein Wunder, dass er auf dem Hof Herzogs Philipps eher unbeliebt war… Und ja, er sieht aus wie Putin…
Ihm gegenüber sitzt Madonna und Jesus. Sehr ungewöhnlich ist, dass beide offenbar mit irdischen Machtabzeichen versehen sind: Maria wird soeben mit einer prächtigen Krone von einem Engel gekrönt und trägt einen prächtigen, wahrhaft königlichen roten Mantel, Jesuskind, mit einem ernsten Blick, der eigentlich eher einem alten Mann als einem Kind zusteht, hält ein Erdapfel in der Hand, das Zeichen königlicher Würde.
Möglicherweise ist dies eine wichtige Einspielung. Der Herzog hat sich dazu entschlossen, an einem Kreuzzug teilzunehmen, um das heilige Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Rolin, als Staatskanzler, übernahm die Vorbereitung des burgundischen Anteils an dem Kreuzzug. So lässt sich der Apfel in der Hand Jesus interpretieren als eine königliche Aufforderung des Sohn Gottes, sich der Befreiung der heiligen Stadt zu verschreiben.
In die gleiche Richtung weist nämlich auch die Umgebung, in der sich die drei Gestalten aufhalten.
Sie befinden sich in einem hellen, luftigen Raum, welches stark an eine Halle erinnert. Offenbar ist Rolin hier der Besucher, sein Pult ist tragbar und nur hingestellt, während Marias Thron aus eingelegtem Marmor besteht. Kam Rolin also nach Jerusalem, um Jesus zu begegnen?
Auf den Kapiteln der Säulen sind kleine biblische Szenen abgebildet. Die Säulen bilden drei Durchgänge, eine Einspielung auf die Dreifaltigkeit und die heilige Stadt der Christenheit?
Wir blicken durch die weiten Fenster in einen Garten, in dem sich eine hohe Mauer findet, eine mögliche Einspielung auf Johannes, der von einer hohen Mauer in Jerusalem spricht. Vor der Mauer findet sich ein Garten mit Rosen, die auf Jesus Blut deuten, sowie Lilien, die die Reinheit Marias symbolisieren. So liegt die Vermutung nahe, wir befinden uns tatsächlich in Jerusalem, einer Stadt, die es wieder der Christenheit zuzuschlagen gehört.
Die Stadt dahinter ist durch den Fluss in zwei Teile aufgeteilt. Der linke Teil ist eher bürgerlich, nur eine Kirche ist zu sehen, während im rechten Teil vor lauter Kirchen erkennt man kaum Häuser. Ein irdisches und himmlisches Jerusalem vielleicht? Oder Aufforderung, dass von Ungläubigen beherrschte Jerusalem zu erobern und zu einer Stadt der Kirchen zu machen?
Und die zwei kleinen, rätselhaften Figuren in der Bildmitte, die uns den Rücken zuwenden? Gute Frage. Die eine Interpretation geht dahin, in der Gestalt des Hofbeamten den Maler selbst zu sehen, da sein Turban große Ähnlichkeit mit einem Selbstbildnis van Eycks hat. Eine andere sieht in genau der anderen Person den Maler selbst, der sich, als Künstler und damit der göttlichen Gnade zugeteilt, über die Brüstung lehnt und auf Jerusalem schaut, während der zweite Mann in Wirklichkeit blind ist (weshalb er einen Stock trägt) und auf die Sinne eines Künstlers angewiesen ist, um die Schönheit und die Wahrheit zu erkennen?