In einigen Beiträgen habe ich erwähnt, wie mühsam und uneindeutig die Zuordnung vieler Kunstwerke zum Künstler ist. Wie schwierig das Leben eines Kunsthistorikers manchmal ist, schauen wir uns heute am Beispiel des bekannten Künstler Vermeer, von dem man eigentlich annehmen müsste, er wäre sehr gut erforscht.
In der heutigen Zeit ist es selbstverständlich geworden, Menschen immer und überall eindeutig zuordnen zu können. Gleich mit der Geburt landen wir im Amtsregister des lokalen Bürgerbüros. Werden wir getauft, sind wir kurze Zeit später auch in Kirchenbüchern zu finden. Ziemlich bald meldet sich das Finanzamt mit der Steuernummer, die uns unser Leben lang begleiten wird. Spätestens mit Eintritt ins Berufsleben weiß auch die Sozialkasse alles von uns. Wer jemals geheiratet und den Namen des Ehepartners übernommen hatte, weiß, wie viel Aufwand es mit sich führt, den neuen Namen überall bekannt zu machen, so fest vedrahtet sind wir in der Bürokratie.
Doch nur wenige Jahrhunderte zurück sieht die Sache anders aus.
Wir befinden uns in Delft, einer Stadt in Niederlanden, etwa 16. und 17. Jahrhundert. Nachnamen sind nicht mehr unbekannt, aber noch selten und Personen werden häufiger durch Namenszusätze ergänzt, die sich gern und häufig ändern. Dazu können viele Leute nicht schreiben und verbindliche Schreibregeln existieren noch nicht bzw. werden nicht immer befolgt.
Die Geschichte beginnt mit dem Großvater von Vermeer, Jan. Er ist der Sohn von Reyer (oder eben Reynier, beide Möglichkeiten sind bekannt) und heißt daher Jan Reyerszoon oder Jan Reyersz. Verheiratet ist er mit einer gewissen Cornelia. Cornelia verwendet aber häufiger den Kosenamen Neeltge und als Tochter eines Gregory den Namenszusatz Gregorisdochter. Da der letzte aber etwas kompliziert ist, wird ihr Name häufig zum Neeltge Goris verkürzt. Sucht ein Kunsthistoriker also nach der Oma von Vermeer, muss er entweder nach Cornelia oder Neeltge Gregorisdochter oder Neeltge Goris oder Cornelia Goris suchen. Das muss man erst einmal wissen…
Vermeers Vater wird standesgemäß nach dem Opa benannt und heißt Reynier Jasz. verheiratet mit der Tochter von Balthasar Claesz Gerrits namens Digna Baltens. Das geht noch…
Reynier Jansz schreibt sich manchmal aber auch als Reijnier Vos. Er besitzt (pachtet) einen Gasthof, der sich „De vliegende Vos“ (Der fliegende Fuchs) nennt. Nimmt er nun den Beinamen Vos, weil seine Kneipe so heißt, oder heißt die Kneipe nach ihm? Reijnier ist ja nichts anderes als Rainer oder Reinecke, sehe das bekannte Märchen Reineke Fuchs.
Aber nicht einmal so einfach will die Geschichte es uns machen: Reynier wird auch mal Reynier van der Minne genannt oder später Reynier Jansz. Vermeer und dazu auch noch in verschiedenen Schreibweisen (mal als „Vermeer“, mal dann doch „van der Meer“ etc). Man stelle sich nun vor, man ist ein Kunsthistoriker und forscht in staubigen, kaum lesbaren alten Unterlagen, wo Namen auch noch unterschiedlich geschrieben werden (Mal Reynier, mal Rejinier, mal Renier) und dazu noch mit diversen Pseudonymen versehen sind. Eine sehr, sehr mühsame Angelegenheit.
Doch auch mit Vermeer dem Künstler ist die Namensfrage nicht so eindeutig, wie man glauben mag. In der deutschen Wikipedia steht er beispielsweise als Jan Vermeer drin. Es stimmt zwar, dass er nach seinem Großvater Jan benannt wurde, aber getauft (das war damals entscheidend für die Existenz vor dem Gesetz) ist er in der Form Joannis (Johannes). Warum? Vermutlich aus dem einfachen Grund, weil Joannis vornehmer und eleganter klang für die damaligen Ohren als Jan, so bischen wie heute, wo Eltern ihre Kinder lieber Noah oder Hannah statt Ehrhard oder Gertrude nennen. Vermeer nannte sich auch sein Leben lang Joannis und unterschrieb sich so, daher ist der Name „Jan Vermeer“, wie es in Wikipedia und in vielen Büchern vorkommt, so gesehen eigentlich falsch, zu welcher Ansicht auch die meisten heutigen Kunsthistoriker neigen.
Aber die Sache ist noch kompliziert. Vermeer wird ja nicht nur Joannis Vermeer genannt, sondern auch Joannis van der Meer. Meer bedeutet für die hier, die, wie ich, kein Holländisch kennen, Binnengewässer. Beides, Joannis und van der Meer ist in damaliger Zeit nicht selten, es gibt viele Joannisse und und etliche van der Meere. Zwei davon sind sogar selbst Maler: Johannes Jansz. Vermeer van Haarlem (1628-1691) ist Landschaftsmaler und Johan van der Meer (1630-1695/97) aus Utrecht Porträt- und Genremaler. Kein Wunder, dass alle drei bis vor kurzem noch fleissig miteinander verwechselt wurden…
Und da soll man als Kunsthistoriker den Überblick behalten…